Die Kurve gekriegt

Von Ulrike Geburek RECKLINGHAUSEN.
Er war erst 13 Jahre alt, und auf sein Konto gingen schon mehr als 30 Straftaten. Schließlich räumte der Junge ein Tabakgeschäft in Süd aus und verscherbelte die Beute dreist auf dem Marktplatz. Heute ist er Filialleiter eines Schuhgeschäfts in Wuppertal.

Welch ein Kontrast – wie war diese Entwicklung bloß möglich? „Er ist bei uns gelandet“, sagt Martin Heermann, Leiter der „Flexiblen Hilfen“ des Diakonischen Werks im Kirchenkreis und schaut seine Mitarbeiter zufrieden an.
Denn genau die helfen Jugendlichen aus der Krise. Und dabei beschreiten sie häufig ungewöhnliche Wege. Die Fachleute kümmern sich um junge Menschen, die von der Gesellschaft meistens schon abgeschrieben worden sind. Die „Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung“ (ISE) macht scheinbar Unmögliches möglich. „Es funktioniert. Die meisten kriegen die Kurve“, betont Heermann.

Wer in Schubladen denkt, hat im 15-köpfigen ISE-Team allerdings nichts verloren. „Ich fange bei null an, interessiere mich nur für die Person und gebe ihr eine neue Chance“, sagt Thimo Bogler entschieden. Für Außenstehende ist das im ersten Moment schwer vorstellbar, denn die 62 Jungen, Mädchen (ab zwölf Jahren) und jungen Erwachsenen, um die sich die pädagogischen Kräfte im Auftrag des Jugendamtes kümmern, haben in der Regel manches „verbockt“, aber auch manches erlebt.

Der Stress im Elternhaus ist eskaliert. Die Mütter und Väter sind vielfach mit der Erziehung überfordert oder nicht in der Lage, für ihren Nachwuchs da zu sein, etwa weil sie psychisch- oder alkoholkrank sind. Die „Sorgenkinder“ gehen nicht mehr zur Schule oder sind arbeitslos, haben weder Ausbildung noch Perspektive, sie nehmen Drogen oder sind gewalttätig, einige treiben sich auf der Straße herum, andere haben sich strafbar gemacht.

Nun sind die Experten der Diakonie an der Reihe. „Wichtig ist es zuerst, eine Beziehung aufzubauen“, erklärt Betreuer Dennis Homann und lacht Mike (Name geändert) an. Der lächelt zurück. Dass der 17-Jährige jetzt neben ihm im Haus der „Flexiblen Hilfen“ im Paulsörter 10 sitzt und seine Geschichte erzählt, hätte vor wenigen Monaten kaum einer für möglich gehalten. Mike am allerwenigsten. „Ich war zehn Jahre alt, da wollten meine Eltern mich zum ersten Mal rausschmeißen“, berichtet er scheinbar emotionslos, „ein Zuhause hatte ich nicht.“ Mike wurde immer aggressiver, das Verhältnis immer komplizierter. Er geriet in der Schule an die falschen Freunde, „baute Mist“. Mehr möchte er nicht verraten. Nur so viel: „Heute können meine Eltern und ich wieder miteinander reden.“ Denn Dennis Homann stand Mike bei. Längst hat er die Schule gewechselt, eine neue Clique gefunden. Ein Platz im „Betreuten Wohnen“ der Diakonie ist der nächste Schritt.

Wenn die traditionellen Formen der Jugendhilfe versagen, müssen andere Methoden her. Das wissen die „Kümmerer“ des Diakonischen Werks aus Erfahrung. „Wir gucken genau, was der Einzelne braucht“, betont Kai Hanspach. Einen ihrer Schützlinge quartierten die Helferinnen und Helfer schon mal auf dem Campingplatz ein. Einen anderen im Hotel, bis sie für ihn eine geeignete Wohnung gefunden hatten. Das mag manchen überraschen. Doch: „Der Aufenthalt im Heim ist sogar teurer“, so Heermann. Der im Knast ebenfalls. Und sie machen keinen Druck. Der Schulbesuch ist zum Beispiel (zunächst) kein Thema. „Denn das hat ja bisher auch nicht geklappt“, sagt Heermann, „wir wollen das Feld langsam bereiten, damit Veränderung überhaupt erst möglich ist.“

Trotz alledem gibt es manchmal kein gutes Ende. „Wir können nicht jeden retten“, meint Gerhard Kobus. Er spricht über rechtsradikale oder heroinabhängige Jugendliche, über einen Heranwachsenden, der seinen Freund mit einer Grablampe erschlagen hat. „Aber es kommt natürlich auch darauf an, wie wir Retten definieren“, meint er. Am Ende müsse nicht der brave, Steuern zahlende Bürger mit Job, Reihenhaus, Familie und Hund stehen. Es sei schon ein großer Gewinn, wenn der Alltag des jungen Menschen in geordneten Bahnen verlaufe. Und ist er schließlich volljährig, sind die Betreuer immer noch für ihn da. Denn bei der ISE hat er „lebenslänglich“. Soll heißen: das lebenslange Recht, sich zu melden und um Hilfe zu bitten.

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